Die Idee entstand am Bremer Firmensitz der Harren Group. Hier beschäftigen sich unter anderem die zehn Mitarbeiter des Quality & Safety Departments intensiv mit den Einsatzmöglichkeiten von KI, um Arbeitsabläufe zu verbessern. „Eine Problemstellung war, wie wir die vielen Informationen, besser verfügbar machen“, berichtet Nils Aden, der als Geschäftsführer der Harren Group für das Shipmanagement verantwortlich und selbst sehr IT-affin ist.
Ein Beispiel bei der Reedereigruppe ist das Shipboard Main Manual, wie die Betriebsverordnung auf Englisch heißt. Darin wird erklärt, wie an Bord alles geregelt ablaufen soll – von Alltagssituationen bis hin zu besonderen oder seltenen Aufgaben und Ereignissen. „Das Dokument liegt zwar digital vor, ist aber sehr umfangreich und entspricht mehreren dicken Büchern“, erläutert Aden. Es sei daher nicht immer einfach, schnell und zielgerichtet die relevanten Informationen zu finden. Das gelte insbesondere für Nachwuchskräfte und neue Kollegen an Land wie auf See.
Die Grundstrukturen und Pflichtinhalte basieren zwar auf internationalen Vorschriften wie dem SOLAS-Abkommen (International Convention for the Safety of Life at Sea), dem ISM-Code (International Safety Management Code) für sichere Schiffsführung und dem MARPOL-Übereinkommen (International Convention for the Prevention of Pollution from Ships) zum Schutz der Meere vor Verschmutzung. Im Detail aber unterscheiden sich die Dokumente, da sie individuell auf den jeweiligen Schiffstyp zugeschnitten sind und insbesondere auch zahlreiche, unternehmensspezifische Inhalte enthalten.
Bei der Harren Group wurde daher überlegt, ob und wie der Zugriff auf diese Informationen mithilfe von KI optimiert werden könnte. Dadurch entstand der Kontakt zu Sealenic aus Berlin, der fünften Ausgründung (2024) vom Venture Studio Flagship Founders. Im Rahmen einer Entwicklungspartnerschaft mit Harren Ship Management und zwei weiteren Industriepartnern entwickelte das Start-up die KI-basierte Lösung „Agentic“ auf Basis eines Chat GPTs, die das Auffinden und Interpretieren von Informationen im maritimen Betrieb schneller, einfacher und vor allem sicherer macht – und das natürlich datenschutzkonform.
Via PC, Tablet und Smartphone – der Internetzugang an Bord der Schiffe der Harren Group ist über Starlink möglich – können die Nutzer ihre Fragen einfach in eine Chat-Oberfläche eingeben, etwa im Fall eines Notfalls an Bord. Das ist sowohl in der Arbeitssprache Englisch als auch in anderen gängigen Sprachen möglich.
Innerhalb von Sekunden erhalten die Nutzer präzise Antworten, inklusive Kontext und Quellenverweisen. Die KI verarbeitet dabei frei formulierte Fragen und durchsucht automatisch die hinterlegten Dokumente nach passenden Inhalten. Im Gegensatz zu vielen allgemeinen KI-Tools garantiert Sealenic die Zuverlässigkeit seiner Antworten und liefert keine falschen Ergebnisse. Um diese Funktionalität zu gewährleisten, werden unternehmensspezifische Dokumente sowie optional auch externe verarbeitet. Das System kann diese Inhalte interpretieren und priorisieren, sodass die Nutzer dies nicht tun müssen. Das reduziert den Zeit- und Arbeitsaufwand für die Suche nach der richtigen Antwort erheblich.
Da Sicherheit in der Schifffahrt oberste Priorität hat, greift die Anwendung jedoch ausschließlich auf geprüfte interne Quellen wie Handbücher, Richtlinien und Verfahren sowie öffentlich zugängliche Informationen zurück. Zu Letzteren zählen etwa IMO- und Flagge-Vorschriften. Auf dieser Grundlage liefert das Tool nicht nur schnelle, sondern auch verlässliche und präzise Antworten. Im konkreten Fall kann das etwa die Frage sein: „Wie reagiere ich bei einer Verletzung? Wie bekommt der Betroffene schnell Hilfe – und wie wird der Vorfall korrekt gemeldet?“
Dabei gibt es eine Besonderheit gegenüber auf dem Markt verfügbaren öffentlichen Anwendungen: „Unser Tool sagt klar, wenn es eine Antwort nicht weiß, etwa, wenn dies auf die gestellte Frage nicht möglich ist, oder diese nicht genau genug gestellt wurde“, erläutert Aden. Zudem wird immer die Quelle genannt, sodass zusätzlich zur Antwort auch dort nachgelesen werden kann. Außerdem kann die Verknüpfung zu externen Quellen je nach Frage ein- und ausgeschaltet werden.
„Rund sechs Monate hat es gedauert, genau zu definieren, was wir erreichen wollten“, erinnert sich Aden. Die eigentliche Umsetzung – inklusive der Entwicklung der Benutzeroberfläche – erfolgte innerhalb weniger Wochen. „Hier war es eine klar umrissene Fragestellung. Die Lernkurve war steil, nun können wir die Technologie bei Bedarf zügig auch in anderen Bereichen einsetzen.“
Die größte Herausforderung sei es gewesen, gedanklich und konzeptionell zwei Welten zusammenzubringen – die operative Schifffahrts- und die Technologieseite. „Das ist zwar auch bei der klassischen Softwareentwicklung erforderlich, aber hier hat es noch eine andere Dimension“, so Aden. „Denn je schärfer wir beide Blickwinkel zusammenbringen, desto besser schöpfen wir das Gesamtpotenzial aus. Und als Unternehmensführung eröffnet das neue Türen, die es bisher noch nicht gab.“
Inzwischen ist das Tool in einer Art „großem Test“, wie es Aden nennt, in etwa der Hälfte der 70 Schiffe umfassenden Flotte implementiert. Es wird erwartet, dass durch die KI eine Zeitersparnis von über einer Stunde pro Person und Tag bei der Anwendung erreicht werden kann. Sukzessive soll das Tool später auch auf den anderen Schiffen der Flotte eingeführt werden. „Wichtig ist uns, dass wir dabei die Mitarbeiter abholen und mitnehmen“, unterstreicht der Geschäftsführer, und ergänzt: „Wir wollen es ihnen ermöglichen, ihre Tätigkeiten noch effizierter und zielgerichteter auszuüben.“
Insgesamt schätzt Aden das Potenzial der Technologie als „gigantisch“ ein. Entscheidend sei jedoch nicht, sie möglichst breit einzusetzen, nur weil sie gerade im Trend liege. Vielmehr gehe es darum, gezielt dort anzusetzen, wo KI einen konkreten Mehrwert stiften kann. Das wird derzeit in unterschiedlichen Projektgruppen innerhalb des Unternehmens untersucht. Aden: „Es wird spannend sein, zu sehen, wie diese Reise verläuft. Es ist für uns wichtig, aktiver Teil der Entwicklung dieser relevanten Technologie zu sein.“
Harren Group:
Die 1989 gegründete Harren Group mit Sitz in Bremen ist eine international tätige Reederei- und Logistikgruppe. Die größte Reederei in der Hansestadt an der Weser betreibt eine vielfältige Flotte von mehr als 70 Schiffen – darunter Schwergut-, MPP-, Offshore-, Bulk- und Tankschiffe – und ist beispielsweise im Schiffsmanagement, in der Projektlogistik und mit technischen Services aktiv. Zur Gruppe gehören unter anderem die Marken SAL Heavy Lift, SAL Engineering, Intermarine und Combi Lift. Weltweit beschäftigt das Unternehmen mit 26 Niederlassungen in 24 Ländern über 2.600 Mitarbeitende an Land und auf See.
Weitere Artikel aus unserem Magazin, die Sie interessieren könnten: